Das Centre Dürrenmatt Neuchâtel widmet dem vielseitigen Künstler und Denker Walter Jonas (1910-1979) eine Wechselausstellung. Neben Porträts kommen insbesondere urbanistische Entwürfe, welche weltweites Aufsehen erregten, in Zeichnungen und Architekturmodellen zur Geltung. Das erstmals öffentlich ausgestellte «Buch einer Nacht» bezeugt ein gemeinsames Projekt und die Verbindung mit Friedrich Dürrenmatt; denn Jonas war – so Dürrenmatt – «aus meinem Leben nicht wegzudenken».
Walter Jonas, in Oberursel / Taunus geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Schweiz, bevor er sich an der Reimann-Schule Berlin bei Moritz Melzer zum Maler ausbilden liess. Geprägt vom deutschen Expressionismus und dem Aufenthalt im avantgardistischen Paris der frühen 30er Jahre, lebte Jonas ab 1935 in Zürich. Er setzte sich mit unterschiedlichen Stilrichtungen und Genres auseinander. Das Centre Dürrenmatt akzentuiert das Porträtschaffen: Jonas offenbart ein einfühlendes und fragendes Sehen ins Innere seines ihm Modell sitzenden Gegenübers. Dadurch erreicht er eine hohe künstlerische Aussage, welches das Betrachten der Leinwand zu einer Begegnung von Mensch zu Mensch werden lässt.
Am spektakulärsten äussert sich der weite gedankliche Horizont des Künstlers in seinen städtebaulichen Studien. Die anlässlich seiner Brasilien- und Indienreise entstandenen Eindrücke menschenunwürdiger Grossstadtbehausungen inspirierten ihn zur Entwicklung seiner trichterförmigen, Intrapolis genannten Wohneinheiten, welche einer wachsenden Erdbevölkerung, der Verstädterung sowie ökologischen, soziologischen und technologischen Gesichtspunkten Rechnung tragen sollten.
Mit Architekturmodellen, Zeichnungen, Fotografien würdigt das Centre Dürrenmatt Jonas Beitrag zur Urbanistik und zeigt anhand der Korrespondenz mit Persönlichkeiten wie Max Frisch, Iona Friedmann oder Léopold Senghor, ehemaliger Präsident des Landes Senegal, dessen weltweite Beachtung.
Intrapolis
Die Idee der Trichterstadt entsteht 1958 in São Paulo. Südamerika bringt Jonas die Erkenntnis, dass die krebsähnlich wachsenden Grosstädte mit ihren chaotischen Vorstädten und Slums zu menschenfeindlichen Labyrinthen degenerieren. Das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Erde, zwischen Urbanität und Natur führt Jonas zur Frage nach der conditio humana. Fortan arbeitet er unermüdlich an der Vision für eine menschenwürdige Lebensweise. Das Ergebnis heisst Intrapolis. Die Grundidee entlehnt Jonas der Natur: die Form einer Blüte oder Trichters.
Der Unruhe des modernen Grosstadt-Daseins setzt die Idee der Intrapolis eine introvertierte Lebensweise entgegen. Während der Grossteil traditioneller Wohnungen extravertiert, nach aussen gerichtet ist, öffnen sich die Intrapolis-Wohnungen nach innen – analog zu den bekannten Vorbildern der Piazza und der Agora. Durch diese Bauweise bleiben die Wohnungen von Immissionen wie Abgasen und Verkehrslärm verschont. Die Sorgen um die Entwicklungsländer und um den ökologischen Zustand der Erde beunruhigen Jonas. Pläne für schwimmende Städte auf Seen, Fjorden oder Meeresbuchten entstehen, die weitgehend resistent gegen Auswirkungen von Erdbeben und Tsunamis sind. – 1971 sollen im Ruhrgebiet drei mit Brücken verbundene Intrahäuser entstehen; eine andere Siedlung für 200 000 Einwohner soll in der Nähe von Hamburg gebaut werden. Doch der Widerstand der ansässigen Architekten und die Ablösung der Regierung von Willy Brandt im Jahre 1974 verhindern die Realisierung. – Auch wenn die Intrapolis in der von Jonas entwickelten Konzeption bis heute nie gebaut wurde, findet die Form in verschiedenen Varianten Eingang in die moderne Architektur (kanadische Pavillon an der Weltausstellung in Montreal 1967, Les Halles in Paris von Claude Vasconi 1979, der Pavillon Chinas an der Weltausstellung 2010 in Shanghai).
Inzwischen haben das Deutsche Architekturmuseum DAM in Frankfurt (1986), die Fondation Beyeler in Riehen/Basel (2004), das Guggenheim Museum in Bilbao (2005), die Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof (2012) in Berlin die Intrapolis in grösseren Darstellungen thematisiert. Allein 2011 sind drei Publikationen zum Thema der Intrapolis erschienen. Das Projekt der Intrapolis hat bis heute nichts an Aktualität und Faszination eingebüsst.
[Auszüge aus der Begleitbroschüre zur Ausstellung mit Artikeln von Beate Schlichenmaier, Roy Oppenheim und Ulrich Weber]
Walter Jonas und seine Bedeutung für Friedrich Dürrenmatt
Friedrich Dürrenmatt lernte Walter Jonas 1942 kennen. Das Atelier des Künstlers wurde zu einem Treffpunkt von künstlerisch und intellektuell Schaffenden verschiedener Länder, die sich teilweise kriegsbedingt in Zürich angesiedelt hatten. Hier bot Jonas auch dem jungen Friedrich Dürrenmatt eine geistige Heimat. Bei den nächtlichen Zusammenkünften entstanden gemeinsame Projekte wie das «Buch einer Nacht» (1943); eine Folge von Texten und Radierungen, welche mitsamt seiner reich dokumentierten Entstehungsgeschichte zum ersten Mal öffentlich zu sehen ist.
Videodokumente und ein umfangreiches Material an illustrierten Schriften bereichern die Ausstellung ebenso wie die im Bookshop des CDN erhältliche, kürzlich vom Verlag Scheidegger und Spiess herausgegebene Biografie «Walter Jonas. Künstler. Denker. Urbanist» des Journalisten und Autor Stefan Howald.
Parallel zur Ausstellung findet ein Begleitprogramm statt, welches mittels öffentlichen Führungen und Veranstaltungen einzelne Gebiete der Ausstellung gesondert betrachtet.
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