Auch in einer Ritze lässt es sich leben. In Warschau, zwischen einem Altbau und einem (post-)sozialistischen Wohnblock, ist, wie es heißt, das « schmalste Haus der Welt » entstanden. Man denkt zunächst an einen Fahrstuhlschacht, und selbst für einen Fahrstuhl ist es schmal. Die Wände sind transparent, aber mattiert.
In dieser Ritze, in der früher Gerümpel lagerte, wird also der israelische Schriftsteller Etgar Keret wohnen. Das Haus trägt mehr oder weniger offiziell seinen Namen. Als Keret vor drei Jahren einen Anruf des polnischen Architekten Jakub Szczesny bekam, der ihn für die Idee zu gewinnen versuchte, glaubte er zunächst an einen Scherz. Aber dann ließ er sich darauf ein.
Er sollte der erste Bewohner des Hauses sein (soweit bekannt, ohne Miete zu zahlen) und damit diesem Künstlerhaus mit dem Klang seines Namens Bekanntheit verschaffen. Hanna Gronkiewicz-Waltz, Oberbürgermeisterin der polnischen Hauptstadt, kam zur Eröffnung und stöckelte selbst die schmale Treppe hinauf, um das Domizil zu besichtigen. Immerhin: Die Stadt Warschau ist mit gut 36.000 Euro der Hauptsponsor dieses Kunstprojekts.
122 Zentimeter misst das Haus an seiner breitesten Stelle
Wer das Haus besichtigen will, wird – in Vierergruppe bitte schön – von einem Mitarbeiter der Stiftung Moderne Kunst hineingeführt. 122 Zentimeter misst das Haus an seiner breitesten Stelle. Es enthält ein Bett (90 Zentimeter breit), einen Arbeitsplatz, einen Kühlschrank, eine Spüle, und die Nasszelle (mit Dusche) ist deutlich bequemer als eine Flugzeugtoilette. Die kleine Form soll an die Kurzgeschichten Kerets erinnern.
Die Anwohner schimpften zwar ein bisschen über das « hinausgeworfene Geld ». Sie fassten sich an den Kopf, als es um die Frage ging, ob das Keret-Haus sich (um eine Plumpsklo-Lösung zu vermeiden) an ihre Abwasserrohre anschließen dürfe. Doch die Dame von der Eigentümergemeinschaft, an die sich der Architekt wandte, entpuppte sich nach wenigen Sätzen als Leserin Kerets. Die Schlacht war gewonnen.
Warum aber steht das Haus hier, an der Ecke Zelazna- und Chlodna-Straße? Die Kreuzung war einer der bekanntesten Orte des Warschauer Gettos. Hier stieß das in der Stadt weiter südlich gelegene « kleine Getto » an das « große Getto ». Dazwischen verlief die Chlodna, von den Besatzern halbwegs sinngemäß in Eisgrubenstraße umbenannt und, zwecks Aufrechterhaltung ungestörten deutschen Verkehrs, aus dem Getto ausgegliedert. Wenn Juden aus einem Teil des Gettos in den anderen wollten, mussten sie daher an dieser Stelle eine hölzerne Fußgängerbrücke überqueren.
Bald sollen weitere ausländische Künstler hier wohnen
Die Brücke ist aufgrund vieler erhaltener Fotos bekannt. In der Chlodna-Straße wohnte die « Aristokratie » des Gettos, auf der einen Seite der Kreuzung der Vorsitzende des Judenrats, Adam Czerniakow, schräg gegenüber sein Übersetzer Marceli Reich (später Reich-Ranicki). Beide Häuser sind erhalten, die Brücke freilich nicht. Doch die Kreuzung zieht Künstler und ihre Verbündeten magisch an: An die Brücke erinnert neuerdings eine Stahlkonstruktion mit über die Straße gespannten Drähten, eine Installation von Tomasz de Tusch-Lec.
Einer der angesagtesten Orte Warschaus war bis vor Kurzem die « Klubokawiarnia » (in der Chlodna 25). Nach Protesten mancher Anwohner gegen den Alkoholausschank musste sie jetzt dichtmachen, doch ihr Gründer, der umtriebige Grzegorz Lewandowski, hat schon neue Aktivitäten ins Auge gefasst.
Hier also soll Etgar Keret wohnen. Es sei für ihn eine Art Heimkehr, gab er in Warschau zu Protokoll. Seine Mutter, Jahrgang 1934, überlebte als Einzige aus der Familie das Warschauer Getto und den Holocaust. Als sie, Jahrzehnte später und in Israel, vom großen Erfolg der Bücher ihres Sohnes in Polen erfuhr, sagte sie, Keret zufolge: « Du bist gar kein israelischer Schriftsteller. Du bist ein polnischer Schriftsteller im Exil. »
Bald sollen weitere ausländische Künstler mit Stipendien in dem Haus zu Gast sein. Und wo bleibt dann der Hauptmieter? Ein Wochenende war Keret da, dann ist der Vogel schon wieder weitergeflogen. Schriftsteller « in residence », sie sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.
© Axel Springer AG 2012.




